Rotkäppchen

Wie war das wirklich mit dem Rotkäppchen...

“Und gehe nicht vom geraden Weg ab, sonst kommt der Wolf und frisst dich!”. So ähnlich haben wir es schon hundertfach in dem Märchen der Gebrüder Grimm gelesen oder erzählt bekommen. Was ist eigentlich dran, an der Geschichte ums Rotkäppchen? Übertrieben haben sie ja schon, denn wer würde schon die eigene Oma mit einem Wolf verwechseln? Für die Menschen beherbergt der Wald immer etwas Unheimliches. Wegelagerer und Diebe - sogar Robin Hood - hatten hier ihre Verstecke. Natürlich wussten sie, dass sie von den Menschen hier kaum etwas zu befürchten hatten. Sie schmückten die Schauergeschichten sogar noch weiter aus. Im Wald lebten böse Trolle ebenso, wie Feuer speiende Drachen. Alles was dem Menschen nicht erklärbar schien, wurde auf das Geheimnis des Waldes zurückgeführt.

Um seine Angst zu überwinden, begann sich der Mensch über die Dinge, vor denen er eigentlich Angst hatte, lustig zu machen. So gab es Märchen vom Tapferen Schneiderlein. Die beiden Riesen waren so dumm, dass sie sich schließlich gegenseitig erschlugen. Das Einhorn spießte sich mit seinem Horn auf und Rumpelstilzchen - der böse Kobold aus dem Wald - verriet sich selbst. In den Märchen ist der böse Wolf stets der Verlierer. Ob bei Rotkäppchen, den sieben Geißlein oder in der Vielzahl von Fabeln, wo er stets gegen den Fuchs verlor, in den Märchen steht der Wolf immer für das Böse. Da der Mensch damals kaum etwas über seine Lebensweise wusste, erdachte er sich die unmöglichsten Geschichten.

In anderen Ländern sah man den Wolf mit ganz anderen Augen. Die Indianer zum Beispiel studierten förmlich das Verhalten des Wolfes. Sie lebten Seite an Seite. Wenn die Indianer auf Büffeljagd gingen, kamen sie meist gar nicht nahe genug heran, um den tödlichen Pfeil vom Bogen schnellen zu lassen. Mit einem Wolfsfell bekleidet und sich wie ein Wolf verhaltend, war es aber anders. Die erwachsenen Bisons fürchteten sich nicht vor ein oder zwei Wölfen. Viel zu stark waren ihre Hufe, um sich gegen die Wölfe erfolgreich zur Wehr zu setzen. Wenn die so getarnten Indianer aber nahe genug geschlichen kamen, surrte der Pfeil bereits seinem Ziel entgegen - meist bevor die Büffel ahnten, was mit ihnen geschah.

Die Innuits - wie sich die Eskimos nennen - wussten ebenfalls um die Wichtigkeit des Wolfes. Er nämlich war es, der die kranken Tiere aus den Karibuherden erlegte. Auf diese Weise überlebten nur die gesunden Tiere, wodurch die Herden stets kräftig waren und genügend Nahrung für die Menschen vorhanden war.

Wenn sich die Gebrüder Grimm ein wenig mehr mit der Lebensweise des Wolfes beschäftigt hätten, vielleicht würde es dem Wolf heute nicht so schlecht gehen. Interessant ist, dass Wölfe in Märchen nur über Frauen und Kinder hergefallen sind. Sicherlich benutzten die Menschen in der Vergangenheit den Wolf als Mahnung an die Vorsicht. Heute sagt man vielleicht direkt: “Steig nicht zu fremden ins Auto!” Früher war es die Warnung, nicht vom Weg zu abzugehen, da dort Gefahren befürchtet wurden. Gefahren, die eher von Menschen als von Wölfen ausgingen. Ferner weiß man, dass Wölfe menschliche Behausungen meiden, aus Angst vor dem Menschen. Und wenn ein Wolf dem Schaf im offenen Gatter nicht widerstehen konnte, so schlich er sich meist nachts an, weil er wusste, dass sein größter Feind friedlich schlief. All dies schürte die Phantasie der damaligen Menschen. In den düsteren Geschichten und Überlieferungen des Mittelalters, aber auch in vielen Anekdoten unserer Großeltern scheint der Wolf eine Vorliebe für Menschenfleisch entwickelt zu haben. Bei genauen Nachforschungen stellt sich aber heraus, dass es sich bei vielen Angriffen durch den Wolf um streuende Hunde gehandelt hat oder um Wölfe, die tollwütig waren. Tollwut aber wird von allen Tieren des Waldes übertragen. Sind sie erst einmal infiziert, kann auch ein Rehlein für den Menschen zur tödlichen Gefahr werden. Über ein Märchen “Rotkäppchen und das böse Rehkitz” hat sich aber noch keiner Gedanken gemacht.

Aber all diese Schauergeschichten sind nicht vergleichbar mit den Dingen, die der Mensch dem Wolf durch Schlagfallen, Tritteisen und Giftköder angetan hat - und diese Taten sind in Jagdbüchern und Chroniken haarklein beschrieben.

Der Wolf steht an der Spitze der Nahrungskette, neben Bär und Luchs. Sie sind die natürlichen Regulatoren für eine gesunde Flora und Fauna. Jäger werden niemals diese Tiere ersetzten können. Bleibt nur zu hoffen, dass die Toleranz der Menschen dem Wolf gegenüber zunimmt, denn letztlich profitieren auch wir Menschen von einer intakten Natur.

www.Wölfe.info Martina Garz© 2011